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Vossische Zeitung 28. Oktober 1917 Nr. 551 Seite 1 bis 20

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Vossische Zeitung Morgen-Ausgabe, Sonntag 28. Oktober 1917

Der Siegeszug der Verbündeten.
Wachsende Gefangenenzahlen. – Ueber 500 Geschütze erbeutet.

Das Rücktrittsgesuch des Kanzlers.

Die Nachricht, daß der Reichskanzler Dr. Michaelis sein Abschiedsgesuch eingereicht hat, wird uns von vertrauenswürdiger Seite bestätigt. Nach weiteren Mitteilungen, die wir empfangen haben, nehmen wir es aber durchaus noch nicht als sicher an, daß die Einreichung des Abschiedsgesuches von seiten des Kaisers mit dessen Genehmigung beantwortet werden wird. Vielmehr hat es den Anschein, als ob einzelne Persönlichkeiten in der Umgebung des Monarchen mit allen Mitteln darauf hinarbeiten, die jetzige Reichsleitung in ihrer Gesamtheit, unbekümmert um die schwerwiegenden Folgen, die sich daraus ergeben können, im Amt zu erhalten.

Die Lage wird dem Kaiser nach wie vor so dargestellt, als ob die Parteien sich mit einer Hinauszögerung der Lösung der Krisis schließlich abfinden würden. Während auf der einen Seite geflissentlich die Parteiführer in der Stimmung erhalten werden, als ob ihren Wünschen bei der in kürzester Zeit erfolgenden Umformung der Regierung Gehör geschenkt werden würde, wird auf der anderen Seite die dadurch hervorgerufene Tatenlosigkeit dazu benutzt, an der höchsten Stelle die Situation und die Folgen der Nichtannahme des Entlassungsgesuches des Kanzlers in falschem Lichte darzustellen.

Die Verteidigung Petersburgs.
Meldung der Petersburger Telegr.-Agentur. Petersburg, 27. Oktober.

Bei der Verhandlung über die Frage einer Räumung Petersburg erklärte Kerenski im Vorparlament, daß die Eroberung der Inseln Oesel und Dagö durch die Deutschen die Regierung zwinge, die möglichen Folgen aus diesem Ereignis zu besprechen. „Aber,“ fuhr Kerenski fort, „wir haben niemals, wie gewisse Zeitungen behaupten, die Möglichkeit einer Uebergabe der Hauptstadt an den Feind besprochen. Im Gegenteil war die Verteidigung Petersburgs bis zum äußersten die Hauptsache der Regierung, die nach allen diesen Debatten beschlossen hat, die Hauptstadt nur in dem Augenblick zu verlassen, wo die höchsten Interessen des Staates es erfordern würden.“

Kerenski fügte hinzu, daß die augenblickliche strategische Lage derart sein, daß sie jede Notwendigkeit ausschlösse, die Frage im Vorparlament dringlich zu besprechen. Dies sei um so mehr der Fall, da, wenn eine Räumung Petersburg beschlossen und ausgeführt würde, dies niemals auf militärische Ereignisse zurückzuführen sei, sondern nur eine Folge der Verpflegungs- und Heizschwierigkeiten sein werde. (?)

Kerenski schloß: „Ich versichere auf das bestimmteste, daß alle Maßnahmen, die wir ergreifen, nur den Zweck haben, die Verteidigung Petersburgs noch stärker zu gestalten, denn die Regierung weist jeden Gedanken einer selbst vorläufigen Uebergabe des Verwaltungszentrums des Staates an den Feind von sich.“
Das Vorparlament nahm darauf den durch die Verteidigungskommission eingebrachten Beschlußantrag an, der die Erklärung der Regierung zur Kenntnis nimmt: die Hauptstadt energisch zu verteidigen, dort solange wie möglich zu bleiben und die Verfassungsgebende Versammlung nach Petersburg einzuberufen.

Der Sowjet und die Pariser Konferenz. Stockholm, 26. Oktober.

„Rußkaja Wjedomosti“ schreibt anläßlich der Pariser Konferenz: „Trotz der Proteste des Außenministers hat das Exekutivkomitee des Arbeiter- und Soldatenrates von seiner Absicht, einen eigenen Vertreter nach Paris zu schicken, nicht Abstand genommen und als Delegierten Skobelew ausersehen, obgleich die Mitglieder des Petersburger Komitees nicht einmal überzeugt sein können, daß ihr Vertreter auf der Konferenz der verbündeten Regierungen aufgenommen wird.“


Wie der „Köln. Ztg.“ gemeldet wird, hat die Soldatenabteilung des Arbeiter- und Soldatenrates eine Entschließung angenommen, in der aufgefordert wird, daß die Regierungen Frieden schließe oder einer andern Platz mache, wenn sie nicht imstande sein, Petersburg zu verteidigen.
Skobelew, der Bevollmächtigte des Sowjet für die Pariser Konferenz, erklärte nach einem Einblick hinter die Kulissen sei er zu der Ueberzeugung gekommen, daß Rußland schleunigst Frieden schließen müsse.

Der Sieg am Isonzo.
Amtliche Meldung. Berlin, 27. Oktober, abends.

In Flandern heftige Artillerietätigkeit. Am Südwestrand des Houthoulster Waldes örtliche Infanteriekämpfe.
Vom Oise–Asne-Kanal nichts Neues.
Im Osten keine größeren Kampfhandlungen.
An der italienischen Front auch heute gute Fortschritte.
Die Gefangenenzahl von 60 000 ist um einige weitere tausende gestiegen. Die zahl der erbeuteten Geschütze hat sich auf mehr als 500 erhöht.


Amtlich wird verlautbart.
Wien 27. Oktober.
Italienischer Kriegsschauplatz.

Der unter der persönlichen Oberleitung Sr. Majestät unseres Kaisers und Königs gegen die italienische Hauptmacht geführte Schlag greift gewaltig aus. Unsere kampferprobten, ruhmreichen Isonzotruppen und die mit unüberwindlicher Stoßkraft vorgehenden deutschen Streitkräfte haben einen großen Erfolg errungen. Die Waffenbrüderschaft der Verbündeten, geschmiedet auf ungezählten Schlachtfeldern, besiegelt durch das Blut unserer Besten, bewährte sich aufs neue in unvergleichlicher Weise.

Am oberen Isonzo haben unsere alpenländischen Truppen – altbewährte Infanterieregimenter, Kaiserjäger, Schützen aus der Steiermark und Tirol – in den Felsgebieten des Rombon und des Canin und auf dem Monte Stoll in zäher Ausdauer und Tatkraft das Gelände und den Feind bezwungen. Südwestlich von Karfreit erstürmten Preußisch-Schlesier den hoch aufragenden Monta Matafur. Dort wie westlich von Tolmein wird durchweg auf italienischem Boden gefochten. Auf der Baisizza-Hochfläche wehren sich die Italiener Schritt für Schritt. In heftigem Kampfe wurden die feindlichen Stellungen südlich von Vrh , die einst so heiß umstrittene Höhe „652“ bei Bodice und der in Italien als Siegespreis der ersten Isonzoschlacht sehr gefeierte Monte Santo erobert. Söhne aller Gaue Oesterreich-Ungarns wetteiferten an Angriffsfreudigkeit. Bei Canale und östlich davon brachten zwei k. u. k. Divisionen allein 16 000 Gefangene und 200 Geschütze ein. Nördlich von Görz stehen wir am Isonzo. Im Fajti Hrb entriß die ungarische 17. Division, die seit mehr als zwei Jahren am unteren Isonzo siegreiche Wacht hielt, dem Feind in überraschendem Ansturm seine erste Linie. Es fielen 3 500 Italiener in ihre Hand.

Die Gesamtzahl der Gefangenen hat sich auf 60 000, die der erbeuteten Geschütze auf 500 erhöht. Von feindlichen Flugzeugen sind bisher 26 herabgeschossen worden.

Oestlicher Kriegsschauplatz und Albanien.
Nichts Neues.
Der Chef des Generalstabes.

18500 Tonnen versenkt.

Im Aermelkanal und in der Nordsee wurden durch unsere U-Boote wiederum 18 500 Br.-Reg.To. versenkt.
Unter den vernichteten Schiffen befanden sich zwei mittelgroße bewaffnete englische Dampfer, ferner der bewaffnete italienische Dampfer „Gemma“ (3111 To.) und der englische Segler „Eldra“. Außerdem wurde ein tiefbeladener Dampfer torpediert, der jedoch schwer beschädigt eingeschleppt werden konnte.
Der Chef des Admiralstabes der Marine.

Einsetzung der polnischen Regenten.

Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters. Warschau, 27. Oktober.

Die drei Regenten des Königreichs Polen sind heute feierlich in ihr Amt eingeführt worden. In dem Stadtschloß, dem alten polnischen Königsschloß, begann die Zeremonie. Soldaten der polnischen Legion umsäumten den weiten Schloßhof, und in dem Kolonnensaal, dessen Estrade der weiße polnische Adler schmückt versammeln sich die Spitzen der Behörden mit den geladenen Gästen.

Links feldgrau, nur feldgrau, deutsche und österreichisch-ungarische Offiziere und Beamte und polnische Legionsoffiziere. Unter die schwarzen Röcke auf der rechten Seite bringen nur die Uniformen von ein paar Konsuln einige Abwechslung, der über und über goldbetreßte persische Konsul mit mächtigen Goldepoulettes auf der schmalen Schulter fällt besonders auf. Unter Fanfarenklängen schreitet Generalgouverneur v. Beseler durch das Spalier zur Estrade, mit ihm der österreichisch-ungarische Generalgouverneur Graf Szeptycki, nun die drei Regenten, in der Mitte in scharlachener Soutane der Erzbischof Kakowski, auf hoher Gestalt der mächtige Kopf eines Gelehrten, ihm zur Seite der weißhaarige Herr v. Ostrowski, ein wenig gebückt und der schnurrbärtige Fürst Lubomirski, ein Mitglied einer jener großen „Familien“, deren Namen man in der polnischen Geschichte immer wieder begegnet.

Mit heller, scharfer Stimme, die kein Wort unbetont läßt, verliest Generalgouverneur von Beseler die Kundgebung der verbündeten Kaiser, die den Regentschaftsrat des Königreichs Polen ins Leben ruft. Seine Worte werden polnisch wiedergegeben, der österreichisch-ungarische neue Graf Szeptycki verkündet den Erlaß seines Monarchen in polnischer Sprache, und wie vorher bei Beseler, neigen sich auch jetzt die Häupter der drei Regenten. Ihr Sekretär, Prälat Chmelnicki, ein Herr mit faltiger, kluger Miene, in violetter Robe, ist geschäftig um sie bemüht und reicht Ostrowski den Text der Antwort.

Doch erst beglückwünscht Beseler die Regenten, und drei Hochs ertönen dem polnischen Königreich und seinen Verwesern. Die weichen Klänge des polnischen Liedes erklingen.

Leise doch deutlich und markant gibt Ostrowski die Antwort der Regenten wieder, die mit einem Hoch auf die beiden Kaiser schließt, und von rechts kommt dreimal die Antwort: „Ziwie!“

In der nahen Johannes-Kathedrale, der alten polnischen Königskirche, findet die Feier ihre Fortsetzung. In prunkendem Zug werden die Generalgouverneure und die Regenten durch ein Spalier polnischer Legionäre zur Kathedrale geführt, während am Uhrturm des Königsschlosses die weißrote Fahne hochgeht. Helle Knabenstimmen erklingen in dem hohen Schiff der Kathedrale, die Orgel ertönt, und der Bischof von Wlozlawek zelebriert das Hochamt.

Der Blick verwirrt sich in Farben: rot und golden der Bischof, rot und golden die hohen kirchlichen Würdenträger, die ihn umringen, violette Soutanen dazwischen, und ringsherum die weißen Spitzenüberwürfe anderer Kleriker. Durch Weihrauchduft gellt der silberne Klang des Glöckchens. Eng gedrängt steht und lauscht die Menge, unter dem ordengeschmückten Feldgrau, unter den Verschnürungen der polnischen Legionsoffiziere, unter den schwarzen Feströcken ein paar schlichte alte Mäntel, über deren abgeschabten Kragen silbriges und weißes Haar fällt. Die alten Leute, die sie tragen, haben Bändchen angesteckt, darauf die Zahl 1883 steht, es sind Veteranen vom letzten großen Aufstand, von dem die Polen die Befreiung vom russischen Joch erhofften. Doch der Traum zerrann im Blut, und nun erst hat er seine Verwirklichung gefunden. Während der Knabenchor singt, während der rot-goldene Bischof zelebriert, zieht einer der Männer von 1883 ein abgeschabtes Gebetbüchlein aus der Tasche, und leise bewegen sich seine schwarzbärtigen Lippen im Gebet.

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Nun sprechen die drei Regenten den Eid nach, und von der Kanzel verliest Prälat Chmelnicki ihre erste Proklamation.

In feierlichem Zuge geht es in das Schloß zurück. Weiß-rote Fahnen überall, und die Menge hinter dem Legionsspalier ruft ihm „Ziwie“. Auf dem Schloßplatz spielt eine Kapelle das Lied „Noch ist Polen nicht verloren“, und es ist seltsam, wie unpathetisch sich in der klaren Luft dieses hellen schönen Spätherbsttages sich die Melodie dieses polnischen Trutzliedes ausnimmt.

Abseits in den Gassen, in den vielen stillen Winkeln der alten Stadt, geht das Alltagsleben seinen Gang. Dort stehen langbärtige Männer in langen Röcken, die älteren gebückt wie unter einer unsichtbaren Last, und kaum einen neugierigen Blick werfen sie auf das Getriebe dieses Tages. Denken sie an jene kümmerlichen Geschäfte, die ihnen kaum ein kärgliches Stückchen Brot bringen? Wandeln sie, durch unsichtbare Wälle von der Wirklichkeit geschieden, in den verschlungenen Pfaden der Hagada und Halacha?

Der Nachmittag vergeht in festlichem Trubel. Drüben aber an der Weichsel ragt düster die alte Zitadelle, in deren Kerkern polnische Patrioten seufzten und an deren Galgen so viele ihr Leben ließen. Wer von denen, die heute ihr „Ziwie“ rufen, gedenkt der Tapferen, die der finsteren Zwingburg ihre Schrecken nahmen und mit deutschem Blute den Weg zu dem neuen Königreich Polen bahnten.

Otto Roboisky.


Die erste Proklamation der drei Regenten, die nach der Vereidigung in der Kirche verlesen und durch Anschlag veröffentlicht wurde, lautet:

„Wir schwören Gott und dem polnischen Volke, daß wir unsere Regierungsgewalt ausüben werden zur festen Begründung der Unabhängigkeit, der Freiheit und des Glückes unseres polnischen Vaterlandes, zur Wahrung des Friedens und der Eintracht aller Bürger des Landes. Wir wollen die Nation ihrer staatlichen Unabhängigkeit entgegenführen auf der Grundlage der von den Monarchen der beiden Zentralmächte an den denkwürdigen Tagen vom 5. November 1916 und 12. September 1917 erlassenen Akte. Diese beiden Akte von weittragender Bedeutung haben Polen einen Weg eröffnet, wie er ihm seit 120 Jahren nicht gegeben war. Wir sollen den Grund legen für einen unabhängigen mächtigen polnischen Staat mit einer starken Regierung und mit eigener Wehrmacht, wie es unsere Vergangenheit sowie die Bedeutung erfordert, welche Polen in der künftigen staatlichen Gestaltung Europas zukommen soll.

Lasset uns dem Beispiele unserer Vorfahren folgen, eingedenk unserer Treue zur katholischen Kirche, eingedenk der Toleranz, die dem polnischen Volke stets eigen war, und der demokratischen Idee, die immer tiefer in die polnische Allgemeinheit dringt, möge eine gemeinsame große Tat der Anteilnahme am Bau des polnischen Staates erstehen.

Polen! Euch alle ohne Unterschied des Alters, des Standes und des Glaubens fordern wir im Namen des Wohles des Vaterlandes auf durch Standhaftigkeit und durch Disziplin zur tätigen Unterstützung des Regentschaftsrates sowie der von ihm ins Leben zu rufenden Regierung und des Staatsrates. Dich, polnisches Volk, das seit Jahrhunderten unseren Boden bebaut, das in Fabriken, Werkstätten und Gruben schwer arbeitet, rufen wir auf zur gemeinsamen Arbeit für das heiß geliebte Polen.

Auf der gemeinsamen Arbeit wird Gottes Segen ruhen.“


Die amerikanische Flotte „die größte der Welt“.
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.

Bern, 26. Oktober.

In einer großen Ansprache, die Marineminister Daniels in Chicago hielt, gab er eine eingehende Schilderung der wachsenden amerikanischen Kriegsflotte. Er schloß mit der Erklärung, die Flotte der Vereinigten Staaten werde noch vor Ende des Jahres 1918 die größte Flotte der Welt sein und auch die Flotte Englands überflügelt haben.

Krise im bayerischen Kabinett.
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.

München, 27. Oktober.

In der gestrigen Sitzung des Landtags über den Haushaltsetat hatte Finanzminister v. Breunig bei Besprechung der Eisenbahn- und Postausgleichsfonds dem Verkehrsminister v. Seidlein den Vorwurf gemacht, seine Ressortinteressen denen des allgemeinen Staatsinteresses voranzustellen. Der Abg. Müller-Meiningen griff bei der heutigen Fortsetzung der Beratung des Etats diese Aeußerung des Finanzministers auf zu einem scharfen Angriff gegen den Verkehrsminister, der sich mit Haut und Haaren der Zentrumspartei verschrieben habe, die mit seiner Hilfe Einflüsse auf die Regierungsgeschäfte zu gewinnen suche. Es sei nicht angängig, daß ein Minister für sich allein Politik mache. Herr v. Seidlein sei ein Unglück für das bayerische Staatsministerium, Graf Hertling antwortete hierauf, daß dieses Aeußerungen über die Unstimmigkeiten im Ministerium doch sehr große Uebertreibungen seien. Meinungsverschiedenheiten gebe es in allen Ministerien, es sei aber ein Glück, wenn solche Meinungsverschiedenheiten nicht vorzeitig in die Oeffentlichkeit kommen. Wir sind bestrebt, diese Meinungsverschiedenheiten schiedlich und friedlich auszugleichen. Dies wird auch in diesem Falle geschehen.

Von einem Parteiministerium in Bayern, erklärt der Ministerpräsident, könne keine Rede sein. Ihm sei von der Parteistellung und von der politischen Stellung des Herrn v. Seidlein, als dieser an seine jetzige Stelle berufen worden ist, nichts bekannt gewesen. Er habe überhaupt Herrn v. Seidlein auch dem Namen nach damals noch nicht gekannt. Er sei stets bestrebt gewesen, kein Parteiministerium, sondern ein dem Wohl des ganzen Landes dienendes Ministerium zu schaffen. Abt. Dr. Frhr. v. Haller (Soz.) unterstützte die Angriffe des Abg. Dr. Müller-Meiningen gegen den Verkehrsminister und erklärte, solche Dinge könnten in Bayern nicht weitergehen. Der Ministerpräsident setze sich zu leicht über diese Meinungsverschiedenheiten hinweg, die ja schon lange beständen. Der Finanzminister habe durchaus recht mit seiner Anschauung bezüglich der Post- und Bahnausgleichfonds gehabt, und er habe einfach zu einer Flucht in die Öffentlichkeit greifen müssen. Abg. Dr. Hammerschmidt (Lib.) erklärte hierauf dem Ministerpräsidenten, daß es bedauerlich sei, daß der Ministerrat nicht sofort zusammenberufen worden sei, um die Sache in Ordnung zu bringen. Die Schuld, daß es zu dieser Aussprache im Landtag kommen mußte, liege bei der Regierung. Ministerpräsident Graf Hertling erklärte darauf, er habe bereits gestern einen Ministerrat zusammenrufen wollen, sei aber durch andere dienstliche Geschäfte verhindert gewesen. Er werde sobald wie möglich mit den Ministern eine Beratung herbeiführen und hoffe auf einen Ausgleich.


Audienz beim Kaiser.
Der Kaiser empfing gestern den Oberpräsidenten v.d. Schulenburg, sodann den Justizminister a.D. v. Beseler in Abschiedsaudienz, und zur Meldung die Staatsekretäre Dr. Walraff und Dr. Schwander, die Oberpräsidenten v. Liebell und v. Richter, die Unterstaatssekretäre Dr. v. Mügel, v. Braun, Schiffer und Oelbrück und den Polizeipräsidenten von Potsdam v. Zitzewitz.

Der Kaiser hörte ferner den Generalstabsvortrag und später die Vorträge des Chefs des Admiralstabes und des Chefs des Marinekabinetts.

Das preußische Staatsministerium trat gestern zu einer Sitzung zusammen.

Personalnachrichten.

Der Charakter als Wirklicher Geheimer Rat mit dem Prädikat Exzellenz ist den deutschen Botschaftern Grafen von Bernstorff in Konstantinopel und Grafen v. Wedel in Wien, ferner dem früheren Botschafter in Rom, v. Flotow und dem deutschen Gesandten in Bern Frhrn. v. Romberg verliehen worden.

Generalleutnant z.D. Konrad v. Schubert vollendet am 29. d. M. Sein 70. Lebensjahr. Von 1865 bis 1903 stand er im aktiven Heeresdienst und führte zueltzt die Eisenbahnbrigade, nachdem er vorher an der Spitze des Garde-Pionier-Bataillons und des 1. Eisenbahn-Regiments gestanden hatte. Im Feldzug 1870-71 hat er sich das Eiserne Kreuz II. Klasse erworben. Seit 1903 ist v. Schubert, der mit der im vergangenen Jahre gestorbenen ältesten Tochter des Frhrn. v. Stumm-Holberg vermählt war, Vertreter des Wahlkreises Saarbrücken-Ottweiler-St. Wendel im preußischen Abgeordnetenhause. Er gehört in ihm der nationalliberalen Partei an. Von 1907 bis 1911 war General v. Schubert, der sich neben seiner parlamentarischen Tätigkeit besonders auf dem Gebiet der öffentlichen Wohlfahrtspflege eifrig betätigte, auch Mitglied des Reichstags.

Wir können den Frieden auch erzwingen.
Eine österreichische Ministerrede.

Wien, 27. Oktober.

Ministerpräsident Ritter v. Seidler hielt im österreichischen Herrenhause eine Budgetrede. Er wies auf die glänzende militärische Lage der Mittelmächte hin und fuhr dann fort:
Unsere Ziele sin dieselben geblieben, für die wir in den Kampf getreten sind: die Verteidigung unserer Existenz gegen die feindliche Bedorhung, die Sicherung unserer Freiheit und Selbstbestimmung, die Wahrung unseres Anspruchs, auf gleichberechtigte Beteiligung an dem friedlichen Wettbewerb einer besseren Zukunft. Unsere militärischen Erfolge und die Proben unserer unbezwinglichen, inneren Widerstandskraft, die, gemessen an den so wenig aggresiven und für den Gegner so wenig bedrohlichen Zielen, als weit überragend betrachtet werden müssen, haben uns berechtigt, als erste das Wort Frieden auszusprechen und unsere Bereitwilligkeit zu Verhandlungen kundzugeben. Wir haben den Standpunkt der Friedensbereitschaft seither festgehalten und wir bleiben bereit, uns mit dem Gegner an den Verhandlungstisch zu setzen, sofern er von den gleichen Absichten bewegt ist, d.h. uns nicht einseitig Kriegsziele aufzwingen, sondern die Grundlagen für ein friedliches und gleichberechtigtes Verhältnis der Staaten schaffen will.

Leider sind – gegenüber den klaren, einfachen und versöhnlichen Zielen auf unserer Seite – die offiziellen Ziele unserer Gegner vielfach dunkel und verworren, zugleich aber mit einer Tendenz der Vergewaltigung behaftet und in einer so herausfordernden Sprache verkündet, daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, es handle sich hierbei weniger um das eine oder andere positive Kriegsziel, als eben darum, Forderungen auszusprechen, die die Verhandlungen von vornherein unmöglich machen sollen.

Wenn solche Tendenzen festgehalten werden, so könnte ihnen gegenüber unsere grundsätzliche Friedensbereitschaft natürlich keine andere Gestalt annehmen als die der entschlossensten und nachdrücklichsten Kriegsführung, durch die wir dem Gegner schließlich die Absurdität irgendwelcher Vergewaltigungspläne vor Augen führen und ihn überzeugen würden, daß wir, wenn es darauf ankommt, auch den Frieden zu erzwingen vermögen. (Lebhafter Beifall.) Und wir sind gewiß, daß es uns gelingen wird, in unerschütterlicher Gemeinschaft mit unseren durch alte Freundschaft und in den Leistungen des Krieges herrlich bewährten Bundesgenossen (lebhafter Beifall). Diesen Beweis in unzweifelhafter und schlagender Weise zu erbringen. (Lebhafter Beifall.)

In der Sitzung machte der Präsident Fürst Windisch-Grätz Mitteilung von den großen Erfolgen am Isonzo. Das Haus begrüßte die Siegesnachricht mit stürmischen Beifallskundgebungen.


Der Ketzerkönig Echnaton.
Eine Reformation im alten Aegypten.
Von Dr. Georg Steindorff, Professor an der Universität Leipzig.

Der Leipziger Aegyptologe hat in der Religionswissenschaftlichen Vereinigung einen Vortrag über die Reformideen Amenophis’ IV. gehalten, aus dem uns die nachstehenden Ausführungen zur Verfügung gestellt sind.

In den festlichen Tagen, wo das gesamte evangelische Deutschland sich anschickt, die 400jährige Jubelfeier der deutschen Reformation zu begehen, mag es fast kleinlich erscheinen, auf eine religiöse Reform einzugehen, die sich im fernsten Altertum vor Tausenden von Jahren an den Ufern des Nil vollzogen und die keine oder nur sehr wenige Spuren im Leben der Völker, denen sie galt, hinterlassen hat. Und doch ist die religiöse Reform des ägyptischen Pharao Amenophis IV., wenn wir von dem unvergleichlichen Wirken der Propheten Israels absehen, die größte Geistestat, die im Schoße eines altorientalischen Volkes vollbracht worden ist. Darum hat sie auch stets die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Und sie hat es seit dem Tontafelfund von Tell el-Amarna wieder in stärkerem Maße getan.

Als im Jahre 1375 v. Chr. Amenophis III. die Augen schloß, kam sein jugendlicher frühreifer Sohn, der den gleichen Namen trägt wie der Vater, zur Herrschaft. Nicht dem Staate, der damals in seiner höchsten Blüte stand, und seiner Erhaltung galt sein Streben. Sein idealer Sinn war von anderen Gedanken erfüllt. Er wollte seiner Welt einen neuen Glauben schenken und meinte, durch die Schöpfung einer neuen Religion nicht nur die einander widerstrebenden geistigen und politischen Mächte im Innern Aegyptens überwinden, sondern auch die unterworfenen Völker des Auslandes durch ein geistiges Band fester an das Reich knüpfen zu können.
Die komplizierte ägyptische Religion, die uns Texte der späteren Zeit kennen lehren, hat in der Urzeit nicht bestanden. Neben die ursprünglichen Lokalgottheiten waren allerdings schon in ältester Zeit die großen Weltgottheiten Sonne, Mond, Erde, Himmel und Nil getreten. Die erste dieser Weltgottheiten war der Sonnengott Re. Ihm stand als erster irdischer Gott in Heliopolis der Reichsgott Horus gegenüber, der Schutzgott der Könige, die sich zu allen Zeiten als seine Verkörperung betrachtet haben. Horus hatte schon früh die Rolle eines mit der Sonne verbundenen Himmelsgottes angenommen, und so lag es nahe, daß er bald mit dem eigentlichen Sonnengott verschmolzen wurde. Die einfachste Folgerung wäre gewesen, die Lokalkulte nun überhaupt abzuschaffen und die Verehrung der Weltgottheiten allgemein einzuführen. Dagegen sträubte sich aber der dem Aegyptertum eigene konservative Charakter.

Durch Jahrhunderte blieb der mit dem Re vereinigte falkengestaltige Horus von Heliopolis der Hauptgott Aegyptens, der eigentliche Reichsgott. Das wurde mit einem Male anders, als zu Beginn des neuen Reiches Theben die Hauptstadt wurde. Von nun an wurde der thebanische Lokalgott Amon vor allen anderen Göttern bevorzugt, mit dem Sonnengott identifiziert und trat an die Spitze des ägyptischen Pantheons. Die Priester von Heliopolis sahen freilich diese Schwächung ihres Einflusses nicht ruhig an, sondern warteten ungeduldig auf die Gelegenheit, um den Sturz des Amon herbeizuführen und dem Reichsgott von Heliopolis die verlorene Stellung wiederzugewinnen. Diese Gelegenheit wurde durch den Regierungsantritt Ameophis’ IV. gegeben.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß Amenophis IV. schon als Kronprinz zu dem Kultus des Sonnengottes in Beziehungen getreten ist, ja daß er vielleicht schon vor seinem Regierungsantritt das Amt eines „Hohenpriesters“ dieser Gottheit bekleidet hat.

In der reichen Titulatur des jungen Königs verdient unter manchen merkwürdigen Beinamen ein Beiwort besondere Aufmerksamkeit, nämlich der Namenszusatz: „der von der Wahrheit lebt“. Nicht umsonst hat der junge Herrscher die Wahrheit als sein Lebenselement bezeichnet; von der Wahrheit zu leben, ist das Bekenntnis, das er bei der Thronbesteigung ablegt. Die Wahrheit will er suchen, und er glaubt, sie in der Natur gefunden zu haben, wo sie sich am reinsten und klarsten in dem Aton, dem lebenspendenden Sonnengestirn, offenbart.

Dem Bekenntnis ließ Ameonphis aber bald auch Taten folgen, die sich letzten Weges gegen den Gott Amon und seine Anhänger richteten. Zunächst ließ er freilich noch die alten Kulte bestehen und scheute sich wohl, sie anzutasten. Aber bald erfolgte der letzte entscheidende Schritt. Die bisher verehrten Götter wurden abgeschafft und im ganzen Lande ihre Tempel geschlossen. Ihre Bilder wurden zerstört, und da nach ägyptischem Glauben die Existenz eines Wesens mit seinem Namen vernichtet wird, so wurde der Befehl erteilt, auf allen öffentlichen Denkmälern bis in die Privatgräber hinein alle Götternamen auszukratzen. In erster Reihe galt die Verfolgung freilich dem Amon. Es war eine eigentümliche Fügung des Schicksals, daß der fanatische Religionsstifter selbst einen Namen trug, in dem der verhaßte thebische Gott buchstäblich enthalten war. So blieb ihm jetzt nichts weiter übrig, als sich umzunennen. Er hieß fortan: Echnaton, d.h. er ist dem Aton wohlgefällig.

Im vierten Jahre seiner Regierung fand die einschneidendste Tat des Königs statt. Die alte Königsstadt Theben wurde verlassen. 450 Kilometer nördlich wurde in dem jetzt Tell al-Amarna genannten Distrikt der „Sonnenhorizont“, eine neue Residenz, gegründet und als heiliges Land, das dem Aton allein gehören sollte, geweiht. Zwei Jahre später fuhr der König in einer prachtvollen Staatskarosse, „leuchtend wie die Sonne, wenn sie am Horizonte aufgeht und die Welt mit ihrer Liebe erfüllt“, durch das neue Gebiet von Norden nach Süden, von Osten nach Westen. Angesichts der Sonne leistete er einen feierlichen Eid, daß er niemals bis in alle Ewigkeit diese Grenzen überschreiten werde.

Aus allen Bildern, die die neuen Tempel zieren, weht uns ein neuer frischer Geist entgegen, der Geist der Unabhängigkeit, der Wahrheit, die Echnatons ganzes Lebenswerk durchströmt. Die Quintessenz der neuen Lehre liegt nicht in einem dogmatischen Buch vor oder in einer Philosophie, sondern lediglich in einer Reihe von Hymnen, die den alten Gott preisen. Sie sind vielleicht vom König selbst, zum mindesten aber unter seiner Beihilfe von einem poesiebegabten Priester verfaßt worden. Ein Beispiel mag genügen.

„Wie mannigfaltig sind alle Deine Werke, Sie sind vor uns verborgen, O, Du einziger Gott, außer dem es keinen anderen gibt! Du hast die Erde nach Deinem Herzen geschaffen. Du allein. Mit Menschen, Herden und allen Tieren.

Alles, was auf der Erde ist, was siche rgeht auf Füßen, Alles, was da schwebt, was mit Flügeln fliegt, die Länder Syrien, Nubien und das Land Aegypten. Du setzest jedermann an seinen Platz und gibst ihnen, wessen sie bedürfen.“

Im Innern vertiefte sich der König völlig in seine Ideen; die Verwaltung wurde vernachlässigt, die Beamten ergingen sich in Erpressungen, die Masse des Volkes, der schließlich an der neuen Religion nur wenig gelegen und die im stillen den alten Göttern treu geblieben war, hatte unter der Willkür der Behörden schwer zu leiden. So war die Opposition schon zu Lebzeiten Amenophis’ im stillen stark und harrte nur des Augen-
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Der Zwischenfall im ungarischen Reichstag.
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.

Budapest, 27. Oktober.

Gestern abend benutzte Graf Tisza einen geringen Anlaß der inneren Politik, den angeblichen Mißbrauch eines Obergespans dazu, um dem Kabinett Wekerle eine Niederlage zu bereiten. Dr. Wekerle, der Chef des Minderheitskabinetts, mußte ein derartiges Ergebnis der Abstimmung zwar voraussehen; überraschend war nur der Anlaß, den Graf Tisza dazu gewählt hatte. Vorgestern erklärte er noch in offener Sitzung, er wolle mit der Regierung gern zusammenarbeiten, gestern spät am Abend aber stellte er Wekerle und sein Kabinett vor die verfassungsmäßige Notwendigkeit, ihre Demission zu geben. In den Kreisen der die Regierung unterstützenden Parteien wird der Wunsch nach Auflösung des Reichstags und Anordnung von Neuwahlen immer lebhafter.

Der Ministerpräsident hatte unmittelbar nach der Abstimmung erklärt, daß das Kabinett mit dem Minister des Innern Ugron solidarisch sei.

Inzwischen scheint die Notwendigkeit eines Rücktritts des Ministeriums vermieden worden zu sein. Die Tiszapartei veröffentlicht nämlich eine Mitteilung, in der gesagt wird, sie habe nicht die Absicht, die Regierung zu stürzen, sie habe nur durch ihre Abstimmung ausdrücken wollen, daß sie als Majorität der Regierung wohl die Mittel zur Geschäftsführung zur Verfügung stelle, es aber mißbillige, daß die Regierungsgewalt zu Parteizwecken mißbraucht werde.

In einer Besprechung, welche die vereinigten Parteien, die die Regierung unterstützen, abhielten, erklärte Graf Andrassy, der Zwischenfall sei eigentlich erfreulich, da er die Lage kläre, die vereinigten Parteien zu innigerem Zusammenschluß bewege und die Stellung des Kabinetts kräftige. Der Zwischenfall selbst sei nicht wichtig genug, um zur Auflösung des Hauses zu schreiten. Im gleichen Sinne äußerte sich auch die andere Partei. Hierauf wurde Graf Andrassy von der Versammlung beauftragt, dem Ministerpräsidenten Wekerle das unerschütterliche Vertrauen der vereinigten Parteien auszudrücken.

  • Im Abgeordnetenhause hatte, wie wir gestern Abend berichteten, Graf Tisza über eine Disziplinarangelegenheit des Obergespans in der Batschka interpelliert. Innenminister Ugron wies diese Angriffe zurück. Die Mehrheit des Hauses, d.h. die Tisza-Partei, nahm die Antwort der Regierung nicht zur Kenntnis. Darauf hätte nach parlamentarischem Brauch das Ministerium eigentlich zurücktreten müssen. Durch die nunmehr abgegebene Erklärung der Tiszapartei dürfte der Zwischenfall erledigt sein.

Wachsende Unzufriedenheit in England.
Drahtmeldung.

Berlin 27. Oktober.

Das Unvermögen des englischen Nahrungsmittelamts, durch Kontrollierung der hauptsächlichsten Lebensmittel, Unterstützung der Brotherstellung aus der Staatskasse und andere ähnliche Maßnahmen die Lebensmittelpreise herabzudrücken, erregt nach „Daily Mail“ wachsende Unzufriedenheit unter den niederen Klassen. Ein Ausschuß von Maschinisten und verwandten Gewerben veröffentlichte am 20.Oktober in Leeds eine Erklärung, in der es heißt: „Wir verlangen eine Herabsetzung der Lebensmittelpreise. Falls dies infolge einer tatsächlichen Weltknappheit ohne Einführung der Rationierung unmöglich ist, muß zu einer Reiche und Arme in gleicher Weise treffenden Rationierung geschritten werden. Das wäre der jetzigen Methode vorzuziehen, nach der eine Verbrauchsbeschränkung durch Preiserhöhung erzwungen wird, die eine Beraubung der ärmsten Volksklassen, einschließlich der Angehörigen von Soldaten und Seeleuten, bedeutet.“

Die amerikanischen Gewaltmaßregeln.
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.

Amsterdam, 27. Oktober.

Nach Erklärungen, die der englische Gesandte Sir William Townley einem Vertreter des „Haager Korrespondenzbüros“ gemacht hat, ist an eine gütliche Lösung der Sand- und Kiesfrage nicht zu denken. Die englische Regierung bestehe vielmehr darauf, daß die Durchfuhr sofort aufhöre. Auf die Bemerkung, daß das holländische Volk durch die Abschneidung des telegraphischen Verkehrs sehr hart betroffen werde, antwortete der Gesandte, daß ein Unterschied zwischen Volk und Regierung nicht gemacht werden könne. Auf den Einwand, daß doch auch Präsident Wilson in seiner Antwort auf die Friedensnote des Papstes sehr scharf unterscheide zwischen Volk und Regierung, hatte der englische Gesandte die eigenartige Antwort, die man sich wird merken müssen, daß nämlich Wilson kein professioneller Politiker sei. Der Gesandte erklärte weiter, daß eine schiedsgerichtliche Lösung für die englische Regierung nicht in Betracht kommen könne. Aber selbst wenn die englische Regierung vielleicht nach einiger Zeit von ihrer Maßnahme absehen werde, so sei doch von Amerika in keinem Falle zu erwarten, daß es auch nur das geringste an Lebensmitteln nach Holland ausführen lassen würde, solange nicht diese Frage nach den Wünschen der Entente gelöst sei.

Gut informierte Londoner Kreise sagen zu Loudons Rede in der holländischen zweiten Kammer, Holland weiß, daß England jetzt keine Offiziere nach Belgien schicken kann, um die militärische Verwendung von Sand und Kies zu beweisen. Die Absatzziffer beweise genug. Die holländischen Offiziere bekämen keine Erlaubnis, die belgische Kriegszone zu betreten.

Amsterdam, 27. Oktober.
Reuter meldet aus Melbourne (Australien): Nach einem Beschluß der Regierung dürfen ohne besondere Genehmigung mit Ausnahme von Drucksachen keinerlei Waren nach Skandinavien und Holland ausgeführt werden.

Keine japanischen Truppen nach Europa.
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.

Petersburg, 27. Oktober.

Auch der Chef der japanischen Militärmission in Rußland, General Takaja, erklärt jetzt, daß ein Ueberführen der japanischen Armee nach Europa ausgeschlossen sei. Die Armee sei nur für die Verteidigung Japans bzw. für den Krieg in den östlichen Gebieten ausgebildet worden.

Die Entente-Umtriebe in der Schweiz.
Bern, 27. Oktober.

Das englische Konsulat in Bern hat seinen Wohnsitz nach dem Riesenweg 1 verlegt. Bekanntlich ist dies das Haus, in dem lange Monate die Berner französische Zentralstelle für Spionage und Sabotage ihren Sitz hatte. So bleiben die wertvollen Einrichtungen, die Mougeot, Clairin, Schaffroth und Genossen für ihren Dienst geschaffen hatten, der Entente, wenn auch unter anderer Flagge, erhalten. Anders wenigstens kann man sich hier nicht erklären, daß ein Konsulatsbüro, anstatt wie bisher in der Mitte der Stadt, sich eine an der Peripherie versteckt liegende Villa aussucht.

Die Krise in Italien.
Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.

kf. Lugano, 27. Oktober.

Unter dem Eindruck der österreichisch-deutschen Offensive fordern alle Blätter eine möglichst rasche Lösung der Krise. Deutlich zeigen sich zwei Strömungen; die eine, welche die alten Gegner Sonino und Bissolati jetzt als überzeugte Anhänger der Kriegspolitik vereint, die andere Orlando-Nitti.

Am Schluß der Abstimmung am Donnerstag, durch welche das Kabinett fiel, schrie Enrico Ferri mit seiner dröhnenden Stimme in den Saal: „96 Stimmen für Sonnino, 314 für Orlando!“ Der „Secola“ schreibt dazu: Die Huldigung im Senat für Sonnino und der Beifall, den seine Rede in der Kammer fand, beweisen, daß diese Rechnung falsch sei!

Die Mehrheit von 314 Abgeordneten setzte sich aus den denkbar verschiedensten Gruppen zusammen. Ein Ministerium Orlando-Nitti ohne Sonnino werde außer den Sozialisten eine weitere Opposition von mindestens 120 Deputierten gegen sich haben. Das wäre also eine Regierung gegen die Interventionisten. Aber die Mailänder Blätter erwarten zumindest eine Kombination mit Sonnino als Minister des Aeußern. Marcora und Casrcano, von denen die Rede war, werden als zu alt und kränklich ausgeschlossen, wie man auch Boselli hauptsächlich seines Alters wegen beseitigt hat und weil er allen zu sehr und damit keiner Seite genug entgegenkam.

Die Lösung der Krise wird durch das furchtbare Vordringen der Armeen der Zentralmächte einen ganz anderen Charakter bekommen, als sie sonst gehabt hätte. Bisher versuchen die Blätter die Niederlage durch den üblichen Anfangserfolg einer feindlichen Offensive darzustellen, während gleichzeitig mit bitteren Worten von dem bedeutenden Ansturm und von der Uebermacht des Feindes gesprochen wird. Die große Sorge dringt bereits durch, wenn man sich auch nach Möglichkeit Haltung zugeben und das Volk zu beruhigen sucht.

Rom, 27. Oktober.
Boselli erklärte in der Kammer, das Ministerium sei infolge der Abstimmung zurückgetreten. Die Minister verbleiben vorläufig zur Erledigung der laufenden Geschäfte und zur Wahrung der allgemeinen Ordnung auf ihren Posten. Das Ministerium werde inzwischen von den ihm verliehenen Vollmachten Gebrauch machen und gegebenenfalls die nötigen Verantwortlichkeiten hinsichtlich der Kriegsführung auf sich nehmen.

Lugano, 27. Oktober.
Laut „Corriere della Sera“ fand gestern zwischen Boselli und allen Ministern auf der Consulta eine stundenlange Unterredung statt. Um 11 Uhr wurde an König Viktor Emanuel die Demission des gesamten Ministeriums telegraphiert und von Schluß der Sitzung wurde an Cadorna ein Telegramm gesandt, in welchem Boselli und die Minister Cadorna noch einmal den Ausdruck vollen Vertrauens aussprechen.
Nach Telegrammen aus Rom sind unmittelbar nach dem Rücktritt des Ministeriums auf Befehl der Militärbehörden die Büros der gewerkschaftlichen Organisationen polizeilichen Durchsuchung unterworfen worden. Die französische Grenze ist seit Freitag früh teilweise gesperrt.

Laut „Corriere“ hat Marchese Selvago-Raggi aus Gesundheitsrücksichten um seine Entlassung vom Pariser Botschafterposten nachgesucht. An seiner Stelle ist Conte Bonin, der bisherige Gesandte in Madrid, zum Pariser Botschafter ernannt worden.


Feindliche Kriegsberichte.

Französischer Heeresbericht vom 26. Oktober nachmittags: In Belgien griffen wir heute vormittag um 6 Uhr die deutschen Stellungen zwischen Driesgrachten und Draaibank an. Unsere den Jansbeck und Coverbeck, bis an die Schultern im Wasser, durchwatenden Truppen drangen trotzh der Geländeschwierigkeiten merklich vor. Das Dorf Draaibank, der Wald von Le Chaume und zahlreiche, als Stützpunkte ausgebaute Gehöfte fielen in unsere Hand. Wir machten etwa hundert Gefangene. Die Nacht war an der Front nördlich der Aisne ruhig. Die feindliche Artillerie antwortete nur schwach. Unsere Truppen bauen die von ihnen auf dem Südufer des Oise-Aisne-Kanals eroberten Stellungen aus, dessen eine Brücke der Feind auf seinem Rückzuge in die Luft sprengte. In den Argonnen blieb ein feindlicher Handstreich auf unsere kleinen Posten erfolglos. Auf dem rechten Ufer der Maas erneuerten die Deutschen ihre Angriffe auf unsere Stellungen im Chaumewalde. Nach einem sehr lebhaften Kampfe, indessen Verlauf der Feind ernste Verluste erlitt, gelang es ihm, nur in einem unserer vorgeschobenen Schützengrabenstücke Fuß zu fassen. Die Nacht war überall sonst ruhig.

Bericht vom 26. Oktober abends:
In Belgien keine Gegenwirkung des Feindes gegen unsere neuen Stellungen. Die Anzahl der bei den Operationen heute vormittag gemachten Gefangenen übersteigt 200. Nördlich von der Aisne haben unsere Truppen ihren Erfolg auf dem rechten Flügel der Angriffsfront ausbauend, den Feind aus der Gegend nördlich von Chapelle St.-Berthe bis zum Staubecken zurückgetrieben; das Dorf Filain ist in unserer Gewalt. Weiter östlich haben wir den Rand der Hochfläche nördlich vom Vorsprung von Chevrigny erreicht. An der übrigen Front ist die Lage unverändert geblieben. Die Anzahl der bisher gezählten, seit dem 23. Oktober erbeuteten Geschütze beträgt 160, darunter mehrere 21-cm-Mörser und viele schwere Geschütze. In der Champagne sind zwei feindliche Handstreichversuche nach lebhaftem Geschützfeuer auf unsere Schützengräben bei Maisons-de-Champagne in unserem Feuer gescheitert; andererseits sind uns Einbrüche in die deutschen Linien im Abschnitt des Cornillet-Berges und die Einbringung von etwa zehn Gefangenen geglückt. Auf dem rechten Maasufer hat sich der Artilleriekampf den ganzen Tag über zwischen Samogneux und Bezonvaux fortgesetzt, besonders heftig an der Front des des Choume-Waldes. Ein feindlicher Versuch gegen unsere kleinen Posten nördlich von Bezhogvaux hatte kein Ergebnis. Bei Ban-de-Sapt Streifwachengefecht.

Italienischer Heeresbericht vom 26. Oktober: Die feindliche Offensive gegen den linken Flügel unserer Truppen an der Julischen Front, die durch mächtige Massen von Feinden genährt wurde, hielt in der Nacht zum 25. und den gestrigen Tag über mit äußerster Heftigkeit an. Vom Monte Maggiore bis westlich von Auzza mußten wir aus unserer äußersten Linie weichen, und infolge dieses Zurückgehens mußten wir zur Räumung der Hochfläche von Baisizza schreiten. Oestlich von Görz und auf dem Karst ist die Lage unverändert. Gestern wurden 10 feindliche Flugzeuge abgeschossen oder von unseren Fliegern gezwungen zu landen.

Fortsetzung von S. 2: "Der Ketzerkönig Echnaton"

... -blicks, um wie ein Sturmwind die junge Schöpfung hinwegzufegen. Und das Schicksal war ihr günstig.

Kaum dreißigjährig starb der König, und die Gegenpartei erhob sich mit aller Macht. Die Nachfolger Amenophis’ IV. verlassen die Stadt des Aton, Tell elAmarna. Die Residenz wird nach Theben zurückverlegt. Die Atontempel werden zerstört, und mit demselben Eifer, mit dem Amenophis jede Erinnerung an die alten Götter hatte auslöschen wollen, wurde nun die Erinnerung an ihn, der als Ketzerkönig für die kommenden Generationen gebrandmarkt wurde, getilgt. Flüche wurden auf Echnaton, der die Traditionen gestürzt, der den Amon bekämpft hatte, herabgewünscht, „die Sonne dessen, der Amon verlassen hatte, war untergegangen“.

In einer im März d.J. erschienenen kleinen, sich an weitere Kreise wendenden Arbeit über Ergebnisse aus den von ihm gemachten Funden in Tell el-Amarna hat der bekannte Aegyptologe Professor Ludwig Borchardt den Versuch gemacht, ein Bild von dem Ketzerkönig zu entwerfen, das wesentlich von dem hier gezeichneten abweicht. Der König erscheint bei ihm nicht mehr in der Glorie des Reformators, sondern es heißt, daß die von ihm in seiner Lehre gegebenen Ideen altes religiöses Erbgut gewesen seien, die Echnaton nur einseitig, gewaltsam übertrieben habe. Gewiß, es steckt viel Altes in den Aton-Hymnen, aber wenn man sie mit den nur wenige Jahre vor der Reform des Ketzerkönigs in Theben niedergeschriebenen Hymnen vergleicht, dann fühlt man das Neue und Unerhörte der von Aemonphis allein erdachten Religion.

In der Reformation Amenophis’ IV. liegt in der Tat ein großes religionsgeschichtliches Ereignis vor, und wir haben allen Grund, den Ketzerkönig als einen der Geisteshelden des alten Orients zu preisen, trotz des Mißerfolges, den seine Reformen gehabt haben. Will man ihm einen Vorwurf machen, so ist es nicht der, daß er gewaltsam und einseitig alte religiöse Ideen übertrieben hat, sondern daß er die Kraft seiner neuen Ideen überschätzte und die Widerstandsfähigkeit der alten Priesterschaft zu gering achtete. Hätte das Schicksal ihm eine stärkere Gesundheit und ein längeres Leben beschieden wer weiß, wie dann der Verlauf der Reformation gewesen wäre und ob es ihm nicht doch vielleicht gelungen wäre, sein kühnes Werk zu vollenden, um ihm eine Lebensdauer für die Ewigkeit zu sichern.


Die Erstaufführung von Korngolds „Violanta“ und „Ring des Polykrates“ findet im Königlichen Opernhaus am 2. November statt. In „Violanta“ sind in den Hauptrollen die Damen Hasgren-Waag, Goetze und die Herren Hutt und Armster, im „Ring des Polykrates“ die Damen Dux, Engell und die Herren Bergman, Henke und Stock beschäftigt. Musikalische Leitung: Generalmusikdirektor Blech, Regie: Dr. Bruck. Der Komponist ist eingetroffen und wird der Erstaufführung beiwohnen.

„Die Fledermaus“ füllte gestern nachmittag dem Oesterreichischen Hilfsverein das Deutsche Opernhaus. Gustav Matzner sang zum ersten Male hier in Berlin den Eisenstein: bestes Wien. Das Körnchen Berlin gab die famose Adele der lustigen Werckmeister dazu. Elisabeth van Enders war eine feine Rosalinde: ein Stückchen Kammermusik zwischen Zigeunermusik. Auch die übrigen Rollen dieser Aufführung, die Matzners Temperament in echtem Straußrhythmus mitzog, waren recht gut besetzt. Julius von Schicht und Hertha Stolenberg sangen im zweiten Akt Lieder von Richard Strauß.

Aus den Theatern.

Die Erstaufführung der „Wildente“ im Theater in der Königgrätzer Straße ist auf den 7. November festgesetzt worden. Den alte Werle spielt Rudolf Lettinger, Gregers: Friedrich Kayßler, den alten Ekdal: Reinhold Schünzel, Hjalmar: Ludwig Hartau, Gina: Helene Fehdmer, Hedwig: Maria Orska, Frau Sörby: Olga Engl, Molvik: Richard Leopold. Die Regie führt Karl Meinhard.

Im Trianon-Theater geht am Montag Ludwig Fuldas Schauspiel „Der Lebensschüler“ zum 50. Male in Szene. Die Hauptrollen sind besetzt wie bei der Erstaufführung.

Im Lessing-Theater haben die Proben zu Richard Dehmels Drama „Die Menschenfreunde“ begonnen, dessen Uraufführung Anfang November stattfinden soll.

Interessante Bücher aus dem Nachlaß des Professors Dr. Botho Graef kommen morgen durch das Antiquariat Graupe im Anwalthaus zur Versteigerung. Einige Kostproben aus dem reichhaltigen, fast 500 Nummern starken Katalog seien hier gegeben. Da ist Stefan Georges „Maximin“ mit dem Buchschmuck von Lechter, Lessings „Minna v. Barnhelm“ (siebzehnter Hundertdruck), Goethes „Faust“ I. und II. Teil (Hyperiondruck), Goethes „Torquato Tasso“ aus der Januspresse. Auch die beiden großen englischen Pressen „Doves“ und „Essexhause“ sind mit einigen ihrer schönen Bücher vertreten. Selten wird man einer so reichen Zahl Erstausgaben und rar gewordener Werke Stefan Georges begegnen wie hier. Auch die Graphik ist in guten Namen vorhanden. Es werden Menzels „Sieben vergessene Holzschnitte“ zu Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen, in einem Privatdruck, der in nur 100 Exemplaren hergestellt ist, zum Ausgebot kommen, ferner das vergriffene „holländische Skizzenbuch“ Liebermanns und Klingers „Amor und Psyche“ in der ersten Ausgabe. Als Unikum sei auch noch ein handschriftliches gemeinschaftliches Gedicht des Dichters Dehmel und Liliencron(s) aus dem Jahre 1893 erwähnt, das an die Berliner Schriftstellerin A.S. … gerichtet ist, und schließlich „Die Vossische Zeitung“, geschichtliche Rückblicke aus 3 Jarhunderten, von A. Buchholz, Berlin 1904, gedruckt zum 300jährigern Bestehen dieser Zeitung in der Reichsdruckerei.